Sitzung 850, Mittwoch, den 02. Mai 1979 aus Individuum und Massenschicksal

 

Geduldet euch einen Moment ... Betrachten wir einmal die vielfältigen Formen, die der Idealismus annehmen kann.  Idealisten zu identifizieren fällt nicht immer leicht, denn sie kommen oft in so pessimistischem Gewand daher, daß man nichts weiter erkennt als Züge der Ironie oder einer sardonischen Natur. Andererseits verbergen sich unter der Oberfläche eines glühenden Idealismus oft die dunkelsten Aspekte des Pessimismus und der Verzweiflung.

Wenn ihr Idealisten seid und euch gleichzeitig relativ machtlos fühlt, wenn euer Idealismus unbestimmt und grandios und ohne Bezug auf irgendwelche praktischen Pläne ist, durch die er zum Ausdruck gebracht werden könnte, dann befindet ihr euch in einer schwierigen Lage. Ich will das an ein paar Beispielen deutlich machen.

 

Neulich abends hatten sich hier in diesem Wohnzimmer mehrere Menschen eingefunden. Einer der Besucher, ein Mann aus einer anderen Gegend des Landes, begann über den Zustand der Nation zu sprechen, wobei er seine Landsleute wegen ihrer Dummheit und Raffgier in Bausch und Bogen verurteilte. Es gebe nichts, was Menschen für Geld nicht tun würden, sagte er, und im Verlauf seines Monologs gab er der Meinung Ausdruck, die Menschheit selbst werde unausweichlich ihre eigene Vernichtung herbeiführen.

 

Er zählte eine ganze Reihe von Schandtaten auf, die um des Geldes willen begangen worden waren. Es folgte eine lebhafte Diskussion, doch blieb der Mann jedem gegenteiligen Argument gegenüber verschlossen. Roger, so wollen wir ihn nennen, ist im Grunde ein Idealist, aber er glaubt, daß der einzelne Mensch nur wenig in der Welt ausrichten kann, und so hat er es unterlassen, seinen persönlichen Idealismus in seinem eigenen Lebenszusammenhang zu verwirklichen.

„Jeder ist ein Sklave des Systems“. Das ist der Tenor seines Glaubens. Er arbeitete in einem Routinejob und blieb dabei seit zwanzig Jahren, obwohl er, wie er sagte, die Arbeit haßte. Nie nahm er die Gelegenheit wahr, in andere, ihm offenstehende Tätigkeitsbereiche überzuwechseln – weil ihm der Mut dazu fehlte. Er fühlt, daß er sich selbst verraten hat, und diesen Verrat projiziert er auf die Außenwelt, bis er in der gesellschaftlich-politischen Welt nichts anderes mehr sieht als Verrat. Hätte er die Mühe auf sich genommen,  i n   s e i n e m   e i g e n e n   L e b e n   an der Verwirklichung seiner Ideale zu arbeiten, so befände er sich nicht in einer solchen Situation.                     

Es liegt Befriedigung darin, seinen Idealen zu praktischem Ausdruck zu verhelfen, und dieser Befriedigung entspringt ganz natürlich weiteres Handeln im Sinne eines praktizierenden Idealismus.

 

Roger spricht stets in dieser Weise, wenn er in Gesellschaft ist, und so verbreitet er eine negative Ausstrahlung der Verzweiflung, wo immer er auftritt. Doch ist sein Leben nicht nur durch diese Haltungen gekennzeichnet, denn immer wenn er die tiefe Kluft zwischen seinem Idealismus und dem praktischen Leben vergißt und über andere Belange spricht, beweist er bestechende Energie. Mit dieser Energie hätte er es jedoch viel weiter bringen können, wäre er seinen natürlichen Neigungen und Interessen gefolgt und hätte er eine davon zu seiner Lebensaufgabe gemacht. Er hätte ein großartiger Lehrer werden können. Aber er ist so sehr von seiner Ohnmacht überzeugt, daß er nicht wagte, eine berufliche Veränderung herbeizuführen. Immerhin gibt es auch Annehmlichkeiten in seinem Leben, die ihn davor bewahren, daß sich sein Blickwinkel noch weiter verengt.

 

Wenn ihr die Welt verbessern wollt, dann seid ihr Idealisten. Wenn ihr die Welt verbessern wollt, andererseits aber glaubt, daß sich an ihr nicht das Geringste ändern läßt, dann seid ihr Pessimisten, und euer Idealismus wird euch nur zermürben. Wenn ihr die Welt verbessern wollt, aber glaubt, daß sich ungeachtet sämtlicher Bemühungen alles nur weiter verschlimmert, dann seid ihr wahrhaft kleinmütige, vielleicht irregeleitete Idealisten. Wenn ihr die Welt verbessern wollt, und zwar um jeden Preis, gleich, auf welche Gefahr hin, und gleich, was es euch und andere kosten wird, und wenn ihr glaubt, daß dieses Ziel  jedes euch zur Verfügung stehende Mittel rechtfertigt, dann seid ihr Fanatiker.

 

Fanatiker sind Idealisten besonderen Schlages. Sie nähren gewöhnlich verschwommene und grandiose Träume, und in ihren hochfliegenden Plänen werden die Kriterien des Alltagslebens völlig außer acht gelassen. Sie sind unerfüllte Idealisten, die sich nicht damit zufriedengeben, ihren Idealismus in kleinen Schritten zum Ausdruck zu bringen, geschweige denn die praktischen Auswirkungen solchen aktiven Ausdrucks abzuwarten. Sie fordern unverzügliches Handeln. Sie wollen (lauter) die Welt   n a c h   i h r e n   e i g e n e n   V o r s t e l l u n g e n  umgestalten.     

 

Den Ausdruck der Toleranz oder entgegengesetzter Ideen können sie nicht ertragen. Sie sind die Selbstgerechtesten der Selbstgerechten, bereit, praktisch alles aufzuopfern – ihr eigenes Leben und das Leben anderer. Sie werden, um ihre Ziele zu erreichen, fast jedes Verbrechen rechtfertigen.

 

Ruburt erhielt kürzlich Besuch von zwei jungen Frauen, die lebensfroh, energiegeladen und von jugendlichem Enthusiasmus erfüllt sind. Sie wollen die Welt verändern. Als sie mit dem Ouija-Brett arbeiteten, wurde ihnen mitgeteilt, daß sie tatsächlich an einer großen Aufgabe mitwirken können. Eine der jungen Frauen beabsichtigt, ihren Job aufzugeben, um sich psychologischen Arbeiten zu widmen in der Hoffnung, auf diese Weise zur Veränderung der Welt beitragen zu können. Die andere wird als Bürohilfe mitarbeiten.

 

Nichts ist so anregend und nichts verdient so sehr die Verwirklichung wie der Wunsch, die Welt zum Besseren zu verändern.

 

Tatsächlich ist dies (nachdrücklich) die Aufgabe eines jeden Menschen.

 

Und ihr erfüllt sie in eurem eigenen Umkreis, genau dort, wo ihr lebt und wirkt.

 

Ihr könnt damit im Winkel eines Büros oder am Fließband oder in einer Werbeagentur oder in der Küche beginnen. Ihr fangt dort an, wo ihr euch gerade befindet.

Hätte der früher erwähnte Roger dort angefangen, wo er sich befand, dann wäre er heute ein anderer, ein glücklicherer und erfüllter Mensch. Und sein Einfluß auf all die anderen Menschen, die ihm begegnen, wäre sehr viel segensreicher.

Wenn ihr eure eigenen Begabungen lebt und gerecht werdet, wenn ihr euren persönlichen Idealismus dadurch realisiert, daß ihr ihn nach Kräften in eurem täglichen Leben zum Ausdruck bringt, dann verbessert ihr die Welt tatsächlich.

Unsere heutige Sitzung begann später, weil Ruburt und Joseph den Anfang eines Films sehen wollten, in dem eine junge Schauspielerin auftrat, die ich Sarah nennen will. Sarah hatte Ruburt einen Brief geschrieben, in dem sie ihm von dem Film erzählte. Sarah verfügt über Begabungen, die sie als ihr Kapital betrachtet und die sie in praktischer Weise fördert und pflegt. Sie glaubt an die Möglichkeit der Gestaltung ihrer eigenen Wirklichkeit. Aufkommende Zweifel, daß es bei ihr für den Erfolg nicht reichen würde oder daß es schwierig sei, im Showgeschäft voranzukommen, brachte sie zum Verstummen. Die Freude an der darstellerischen Leistung schuf neuen Spielraum für erweiterte Kreativität und bestärkte ihr persönliches Durchsetzungsvermögen. Indem sie diese Fähigkeiten in sich entwickelt, bringt sie anderen Menschen Freude.  Sie ist eine Idealistin. So will sie beispielsweise versuchen, die Qualität der Sendungen anzuheben, und sie ist bereit, den dafür notwendigen Arbeitseinsatz zu leisten.

 

Kürzlich kam hier ein junger Mann aus einer nahegelegenen Stadt vorbei, ein hochbegabter, intelligenter junger Mensch. Zwar hat er nicht die Universität besucht, doch hat er eine Fachausbildung absolviert und arbeitet jetzt als Techniker in einer nahegelegenen Fabrik. Er ist ein Idealist, der sich großen Plänen zur Entwicklung mathematischer und technischer Systeme verschrieben hat, und er ist hochbegabt auf diesem Gebiet.     

Im übrigen blickt er mit Abscheu und Widerwillen auf die älteren Männer, die dort seit Jahren arbeiten, „sich am Samstagabend betrinken und nichts außer der engen Welt ihrer Familie kennen“, und er hat beschlossen, daß ihm das nicht passieren wird. Er bekam mehrere „Anpfiffe“ für „Dinge, die alle anderen auch machen“, obwohl, wie er beteuert, niemand außer ihm erwischt wird. Er fühlte sich niedergeschlagen, doch den Gedanken, die Universität zu besuchen und ein Stipendium zu beantragen, um seine Fachkenntnisse zu vertiefen, zog er nicht in Betracht. Er mag nicht die Stadt verlassen, die sein Geburtsort ist, um eine bessere Arbeitsstelle zu finden, und es kommt ihm auch nicht in den Sinn zu versuchen, die Lebenserfahrung seiner Mitarbeiter besser zu verstehen. Er glaubt nicht, die Welt verändern zu können, indem er einfach dort anfängt, wo er sich gerade befindet; andererseits wagt er auch nicht, sich auf seine eigene Begabungen zu verlassen, indem er sie in einer praktischen Form zum Ausdruck bringt.

 

Aber die Jugend ist voller Kraft, und so wird er wahrscheinlich einen Weg finden, um seine Fähigkeiten besser zur Geltung zu bringen und ein besseres Gespür für seine innere Kraft zu gewinnen. Vorläufig jedoch geht er druch Perioden tiefer Verzweiflung.

Idealismus setzt das Gute als Gegensatz zum Schlechten voraus; wie also kann das Streben nach dem Guten so oft sein genaues Gegenteil bewirken? Wir werden dieser Frage nachgehen.

 

Es gibt, praktisch gesehen, vor allem ein Gebot – ein christliches Gebot -, das als Maßstab dienen kann. Es ist deshalb so gut, weil ihr es ganz wörtlich verstehen könnt: „Du sollst nicht töten!“      

Das ist deutlich genug.

 

In den  m e i s t e n  Fällen wißt ihr, wann ihr getötet habt. Das ist ein Weg, dem sich viel leichter folgen läßt als zum Beispiel: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“, denn viele von euch  l i e b e n   s i c h   s e l b s t   j a   g a r   n i c h t – wie also könnten sie dann ihren Nächsten lieben! Der tragende Gedanke ist, daß man seinen Nächsten nicht schlecht behandeln, geschweige denn töten wird, wenn man ihn liebt. Das Gebot „Du sollst nicht töten!“ sagt, daß man seinen Nächsten ungeachtet aller Gefühle, die man ihm gegenüber hegen mag, nicht töten darf. Also setzt euch gleichsam ein neues Gebot:

 

„Du sollst nicht töten, selbst nicht um deiner Ideale willen!“

 

Was bedeutet das? Praktisch gesehen würde es bedeuten, daß ihr „um des Friedens willen“ keinen Krieg mehr führen würdet. Es würde bedeuten, daß ihr nicht mehr in Tierversuchen anderen Geschöpfen das Leben raubt, um menschliches Leben zu erhalten. Das wäre die grundlegende Vorschrift:

„Du sollst nicht töten, selbst nicht um deiner Ideale willen!“ – denn um seiner Ideale willen hat der Mensch vermutlich mehr getötet, als er je aus Habgier oder Mordlust oder auch aus bloßem Machtstreben getötet hat.

 

Ihr seid Fanatiker, wenn ihr die Möglichkeit in Betracht zieht, zur Verwirklichung eures Ideals zu töten.

 

Zum Beispiel mag euer Ideal – es gibt ja alle möglichen Ideale – darin bestehen, zum Nutzen der Menschheit eine unerschöpfliche Energiequelle zu erschließen, und ihr glaubt vielleicht so glühend an dieses Ideal, an diesen weiteren Zuwachs an Lebenskomfort, daß ihr die hypothetische Möglichkeit in Betracht gezogen habt, euch dieser Annehmlichkeit selbst auf die Gefahr hin zu versichern, daß dabei einige Menschenleben zugrunde gehen. Das ist Fanatismus.

Das würde beweisen, daß ihr nicht gewillt seid, die notwendigen Schritte zur Erreichung eures Ideals in der materiellen Wirklichkeit zu unternehmen, sondern daß ihr dem Glauben huldigt, der Zweck rechtfertige die Mittel. „Zwar werden unterwegs einige Menschen ums Leben kommen, aber die Menschheit im ganzen wird profitieren“, so lautet das übliche Argument. Aber es geht nicht an, daß die Unantastbarkeit des Lebens den Annehmlichkeiten des Lebens zum Opfer gebracht wird, soll nicht die Qualität des Lebens selbst Schaden nehmen. Ein anderes Beispiel: Indem ihr ganze Generationen wehrloser Versuchstiere mit tödlichen Krankheiten infiziert, opfert ihr das Leben dieser Tiere eurem Ideal der prioritären Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens. Ganz gleich, ob eure Rechtfertigung nun lautet, daß Menschen Seelen haben, Tiere jedoch nicht, oder daß den Tieren eine geringere Lebensqualität eignet – sie ist Ausdruck von Fanatismus, und so kommt auch die menschliche Lebensqualität zu Schaden; denn diejenigen, (mit großem Nachdruck) die unterwegs  i n   w e l c h e r   F o r m   a u c h   i m m e r   Leben opfern, verlieren alle Achtung vor dem Leben, menschliches Leben mit eingeschlossen.

 

                                                                                                         Der Zweck rechtfertigt die Mittel nicht!